Mein Quartier ist rasch gefunden, obwohl jetzt alles ganz anders ausschaut als bei meinem Besuch im Spätherbst. Merklich nimmt das Tageslicht ab. Übrigens trage ich heute, ganz gegen meine Gewohnheit, eine Uhr am Handgelenk. Hier, in der Einsamkeit, mag ich mir diesen Luxus leisten. Zu Hause, wo sowieso alles eingeteilt und das meiste geregelt ist, tue ich es nicht. Es geht einzig darum, zu wissen, wie spät es ist; nicht darum, für irgendetwas gerüstet zu sein. Das Haus, ein uraltes Wälderhaus, seit etlichen Jahren als Rückzugsort eingerichtet, nimmt mich trotz Eiseskälte gastlich auf. Bald brennt ein Feuer im Küchenherd, eines im Kachelofen. Ein Willkommensschnaps gilt mir selbst. Die Fensterläden der Stubenfenster mache ich auf. Ich will den Wind in den Tannen rauschen hören. Später, es ist warm geworden in der Küche, das Abendbrot steht bereit, die Nacht ist angebrochen, gehe ich nochmals ins Freie. Die vier beleuchteten Fenster werfen ein mildes Licht in den Schnee, am Himmel blitzen vereinzelt Sterne. Nur wenn ich ganz reglos stehe, ist das Murmeln des Baches zu vernehmen. Natürlich weiß ich, wo ich bin, weiß ich, dass keine zehn Kilometer Luftlinie entfernt das nächste Dorf ist mit seinen Menschen. Wie leicht es plötzlich ist, neben dem knisternden Herdfeuer, so konzentriert wie entspannt jeden Bissen Käse, jedes Stück Brot, jede Scheibe Speck, jeden Schluck Tee zu genießen, und zugleich wirklich tief einzutauchen in die Geschichte dieses mehrhundertjährigen Hauses, in dem der Geist der Region atmet und ihre Seele west. Ganz von selbst fange ich an zu reden. Aber nicht mit dem Haus rede ich, nicht so sehr mit dem Geist meiner Ahnen. Es sind lebende Menschen und aktuelle Themen, die jetzt und hier eine wunderbar dichte Präsenz erlangen. In einer eiskalten Kammer verkrieche ich mich in den Schlafsack. Im Einschlafen kann ich das Herz der Region schlagen hören. Oder ist es mein eigenes? Es ist einerlei.
Früh am Morgen gibt’s nach tiefem Schlaf heißen, starken Kaffee, dunkles Brot, Käse, Speck. Das prickelnd kalte Wasser aus dem Brunnen sorgt für Munterkeit, das Feuer im Herd wärmt mich, bringt das Wasser zum Kochen und den Speck zum Brutzeln. Sobald es draußen hell wird, hält es mich nicht mehr im Haus. Dennoch: Es behält etwas von mir zurück. Gleichwohl oder gerade deshalb schickt es mich bereichert und gestärkt auf den Weg. Ein wolkenloser Morgen ist angebrochen. Nach zwei Stunden leichtfüßiger Wanderung auf einem gespurten Winterwanderweg kommt auch die Sonne über den Hohen Ifen und kitzelt mich im Nacken. Die Schneefelder glitzern und funkeln. Ein spitzer roter Kirchturm blitzt bald zwischen den Tannen hervor. Ein Campingplatz im Winterschlaf ist Vorbote der ersten Häuser des kleinen, in den Talkessel geduckten Dorfes. Für mich aber ist das soeben erklingende Mittagsgeläut der Pfarrkirche wie ein Willkommensgruß. Ein letztes Tobel ist zu durchqueren, die Subersach grummelt in ihrem vereisten Bachbett. Dann komme ich gerade recht für ein schönes warmes Mittagessen im Dorfgasthaus. Es war kein wirklich langer Ausflug diesmal, dafür ein beredter und ein vielversprechender. Der Seele des Bregenzerwaldes wollte ich begegnen, abseits der Menschen. Gefunden habe ich sie in mir selbst.
Autor: Peter Natter
Ausgabe: Reisemagazin Winter 2014-15