Herunten, im Rheintal, wollen die Menschen schon den Sommer ins Land zwingen, dabei ist es erst Ende Mai. Zwei, drei Wochen sei die Natur früher dran als in anderen Jahren, heißt es. Es blüht und grünt ja wirklich, was das Zeug hält. Gemäht wird auch schon landauf, landab. Droben aber, in den Bergen, schaut es anders aus. Meterweise Schnee, vor allem an den Schattenhängen und in den tiefen Mulden. Während im Tal also der Sommer einzieht, müssen die Älpler warten. Noch ist es zu früh, um das Vieh auf die Bregenzerwälder Hochalpen zu bringen.
Für mich Seelenwanderer ist jetzt die beste Zeit. Eine Zeit zwischen den Jahreszeiten, sie lässt vieles offen. Der Rucksack ist ein bisschen schwerer diesmal. Zwar habe ich den Schlüssel für eine Jagdhütte in der Tasche, in der ich zwei Nächte verbringen will. Aber nein, Vorräte seien noch keine oben, dafür genug Brennholz, sagt der Besitzer, und das Brünnlein sollte auch schon wieder laufen, meint er. So fahre ich eines Morgens mit einem frühen Postbus weit hinein in den Bregenzerwald. Beim Aussteigen im kleinen Bergdorf geht eben die Sonne hinter den Gipfeln auf. Ein frischer, kalter Wind bläst mir um die Nase, schon bin ich froh um den Pullover, der mir bei der Abfahrt noch spöttische Blicke eingetragen hat. Menschen sind keine zu sehen, aber das Kirchenportal steht weit offen und Gesang und Orgelspiel sind zu hören. Richtig, es ist Feiertag heute. Mit einem freundlichen Gruß und der Bemerkung, ich sei früh dran, um da hinaufzukraxeln, verabschiedet mich der Chauffeur. Jetzt ist der Bus leer, das Ziel bald erreicht, dann wird er wieder umdrehen und in den Frühsommer zurückkehren. Ich schultere den Rucksack und mit ihm mehr als nur das Gewicht von reichlicher Verpflegung, Schlafsack, Wäsche und was man so braucht, bis hin zur Lektüre. Was ich mir noch auflade, sind Gedanken, Fragen, Überlegungen. Für den heutigen Abschnitt meiner diesmal dreitägigen Wanderung habe ich mir ein steiles und langes Stück Weg ausgesucht. Dass ich von Orgelspiel und frommem Gesang begleitet werde, ist ein gutes Omen. So bleibt ein Eindruck zurück, der gut zu meinem Vorhaben passt. Das Ziel für heute ist nämlich das Quellgebiet der Bregenzerach. Hoch hinauf soll es also gehen und gleichzeitig der Sache auf den Grund. Die Quelle darf hier ruhig als Metapher verstanden werden, auch als Programm, als Jungbrunnen gar. Von der Lebensader des Bregenzerwaldes habe ich gelesen bei der Vorbereitung auf meine Wanderung. Das ist eine schöne und treffende Bezeichnung für den gut 70 Kilometer langen Wasserlauf. Ist doch die unentwegte Erneuerung, damit aber auch die Vergänglichkeit, ein Programm, das uns Menschen selbst ebenso eingeschrieben ist wie unseren Errungenschaften und unserem Tun.
Frostig ist der Hauch, der mich von den Schneefeldern anweht, zwischen denen ich in die Höhe steige. An den Sonnenhängen auf der Südseite aber wird es grün, und die Sonne, die mindestens so unaufhaltsam höher klettert wie ich, zaubert auch hier eine Ahnung von Sommer auf die Wiesen. Das belebt und beflügelt meine Gedanken, die dem Lauf des munter sprudelnden Wassers zu meiner Rechten folgen. Wie lange wird es dauern, bis das Schmelzwasser von Mohnenfluh, Juppenspitze, Karhorn oder Widderstein sein Ziel in der Nordsee erreicht? Wird dann noch etwas übrig sein vom „Wälderischen“? Darüber braucht man sich nicht lange den Kopf zu zerbrechen. Für mich aber ist es ein Einstieg in mein eigenes Nachdenken über die Seele der Region, deren Suche meine Wanderung gilt.