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1.5. - 31.10.2024

Es geht ums Wiederfinden
C Adolf Bereuter - Bregenzerwald Tourismus

Es geht ums Wiederfinden

Es geht ums Wiederfinden

Der Philosoph Peter Natter nimmt sich im Bregenzerwald ein Buch vor und liest es mit Blick auf seine unmittelbare Umgebung. Diesmal: Sigmund Freud.

Diesmal begleitet mich eine verhältnismäßig wenig umfangreiche Schrift aus dem ausgedehnten Werk des großen Arbeiters Sigmund Freud (1856–1939) in den Bregenzerwald. Dieser soll das Feld abgeben, das ich mit Freuds Gedanken und Erkenntnissen bestellen will: Ackerbau und Seelenanalyse unter einen Hut gebracht. Die seelischen Vorgänge, so lautet Freuds umfassende These, sind so organisiert, dass die uns allen nur zu gut bekannten unlustvollen Spannungen wie Hunger, Durst, Müdigkeit oder sexuelle Reize ein Verhalten hervorrufen, dessen Ergebnis in der Beseitigung dieser Unlust bzw. in der Schaffung von Lust besteht. Wir zielen über kurz oder lang auf befriedigte Bedürfnisse, damit Ruhe herrscht und wir ungestört von uns selbst tun können, was zu tun ist. So weit, so gut – umso mehr, wenn es gelingt, diese Spannungen auf eine sozial verträgliche, kulturell codierte Weise abzubauen. Das klingt in unseren Ohren nach einer ganz vernünftigen ökonomischen Auffassung des menschlichen Handelns im Großen und im Kleinen und besonders im Alltäglichen. Wenn es nur so einfach wäre.

Ein erster Stolperstein stellt sich uns in der Form der Zeit in den Weg, konkret: in Form von Ungeduld, wiederum ökonomisch ausgedrückt: als Termindruck und Sachzwang. Das ist auch der erste Anlass, Freuds Buch zuzuklappen und den Blick vom Siebaner Hüsle aus über den Vorderwald und vom Bödele bis zum Pfänder weit den Horizont entlang schweifen zu lassen, innezuhalten und dem Bregenzerwald das Wort zu erteilen. Die Zeit als drängendes Element ist hier, so habe ich das mehr als einmal erlebt, neutralisiert in den Rhythmen der Jahreszeiten, der Natur. In diese Rhythmen sind alle möglichen Unlustgefühle, sprich: Notwendigkeiten, sanft eingebettet. Was zu tun ist, ist vorgegeben. Freud nennt das Realitätsprinzip. Schon als Kind in den 1960er-Jahren habe ich bewundert, unbewusst wahrscheinlich, wie die Bauern, geheimnisvollen Zeichen folgend und vertrauend, erkannten, wann welche Arbeiten anstehen. Ich habe intuitiv bewundert, welche Kraft es ihnen verliehen hat, dem Realitätsprinzip zu folgen. Und dann, am Ende des Tages, am Feierabend, welche Ruhe und Befriedigung auf ihren verschwitzten Gesichtern!

Stichwort Ruhe: Das ist im Windschatten der berühmten Entschleunigung ein Hotspot oder Schwerpunkt im bregenzerwälderischen Tourismusangebot. Indem ich meinen Freud wieder aufschlage und weiterlese, kann ich es gut nachvollziehen: „Für den lebenden Organismus ist der Reizschutz eine beinahe wichtigere Aufgabe als die Reizaufnahme.“ Vor gut hundert Jahren aufgeschrieben, hat der Gedanke nichts von seiner Gültigkeit verloren, im Gegenteil, technische und elektronische Errungenschaften verleihen ihm zusätzliches Gewicht, mehr noch: Dramatik. Der Außenwelt entnommene Stichproben müssen für die innere Orientierung genügen, postuliert Freud. Die Frage ist also, wie man es vermeiden kann, der Realität hinterherzuhecheln, ohne sie je einholen zu können, ähnlich dem Esel, dem man ein Büschel Heu vor das Maul gehängt hat, dem er folgt, ohne es jemals zu erreichen.

Was nun ins Spiel kommt, ist das Spiel: „Wir spielen alle, wer es weiß, ist klug“, schrieb Arthur Schnitzler, ein Zeitgenosse und Arztkollege von Freud. Ein Spiel war es: Das gibt vielleicht am besten wieder, wie ich das Wesen der Wälder und ihres Tuns, im Wesentlichen die Feldarbeit, ursprünglich erlebt habe. Wie in jedem wahren Spiel geschah alles mit dem nötigen Ernst, aus tiefem innerem Antrieb und mit großem persönlichem Einsatz, aber auch mit ebenso viel Freude wie Selbstvergessenheit – eben spielerisch. Die Frage aller Fragen ist die nach der Balance: „Das Wiederfinden der Identität ist selbst eine Lustquelle“, heißt es bei Freud. Was diesem Satz seine Spannung verleiht, ist die Betonung der Wiederholung: Es geht ums Wiederfinden. Das ist etwas gänzlich anderes als ein einfaches Finden. So verweist Freud ausdrücklich auf den konservativen Charakter der Triebe. Das halte ich für äußerst bedeutsam – und für urwälderisch: Es geht ums Bewahren, ums Nachholen, ums Zusammenbringen des Ursprünglichen, nicht einfach des Alten, mit dem Gegenwärtigen. Triebe sind dann nicht etwas, das uns als ihre Knechte mit Peitschen vorwärtstreibt, sondern ganz im Gegenteil Kräfte, die wie starke Magnete für Ordnung sorgen, die uns dorthin ziehen, eigentlich: zügeln, wo es gut ist für uns. „Ziehe (o Jesus) die Seele mit Seilen der Liebe“, beschreibt eine Kantate von Johann Sebastian Bach (BWV 96) dieses System.

Am Ende seiner Schrift lässt Freud einen Dichter sprechen, um seine Theorie auf den Punkt zu bringen, Friedrich Rückert (1788–1866). Erklärt nun Freuds Theorie den Bregenzerwald oder der Bregenzerwald Freuds Theorie? Keines von beidem, doch sind die Parallelen verblüffend, selbst wenn sie sich, wie es bei Parallelen üblich ist, erst im Unendlichen berühren. Rückert, den iranischen Dichter Al-Harîrî zitierend: „Was man nicht erfliegen kann, muss man erhinken.“ Dem ist nichts entgegenzustellen und wenig hinzuzufügen. Es ist eine jener Einsichten, denen man sich entweder stellt oder vor denen man davonläuft, auch wenn es eigentlich mehr ein Davonhinken ist. Es gilt dem Prinzip nach selbst und gerade im Zeitalter von Traktoren und Melkmaschinen, im Zeitalter von Milch- und Fleischproduktion statt Ackerbau und Viehzucht. Und nicht einmal die blindwütig angebetete Digitalisierung kann daran etwas ändern; sie kann es nur notdürftig und gewiss nicht glückbringend verschleiern. Der Bregenzerwald kann das lehren; und er muss es wieder lernen – warum nicht von Sigmund Freud?

Sigmund Freud: Jenseits des Lustprinzips (1920), Studienausgabe Bd. III, S. Fischer Verlag 1975

Autor: Peter Natter
Ausgabe: Reisemagazin Winter 2018-19

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