Weil, wer den Dingen ganz nahe sein möchte, oft am besten damit fährt, sie recht weit hinter sich zu lassen. Aber wozu lang und breit Weisheiten auftischen: zur Sache. Ich habe Herman Melvilles Moby-Dick in den Bregenzerwald, in meine Bregenzerwälder Kajüte sozusagen, mitgenommen. Auch wenn es eine Kapitänskajüte ist, ist sie klein. Komfort ist nicht das vorherrschende Thema – wichtig ist nur, dass alles da ist, was es braucht für die Seefahrt bzw. den Landaufenthalt; das kann fast aufs selbe hinauslaufen. In beiden Fällen ist das, was gebraucht wird, worauf es ankommt, naturgemäß so wenig wie speziell und doch gerade nicht irgendetwas Beliebiges. Herman Melville (1819–1891) habe ich sicher nicht ausgesucht, weil er viel so typisch Wälderisches an sich hätte.
Er ist eher ein Städter, ein New Yorker der ersten Stunde, ein Seemann auch in jungen Jahren, einer, der die Südsee, Polynesien samt Polynesierinnen für sich entdeckt hat; aber auch ein Landmann, ein Farmer zwischendurch, und ein Europareisender, quer durch von Schott- bis Griechenland auf seiner Grand Tour über den alten Kontinent. Einer, der um den großen Überblick bemüht war, um schließlich, der Not gehorchend, als untergeordneter Zollbeamter im New Yorker Hafen zu enden. Bei aller Selbstgenügsamkeit – und damit nähere ich mich schon stark dem Bregenzerwälderischen – hat er mit seinem und für seinen Moby-Dick einen bleibenden Platz in der Literaturgeschichte und zugleich in den Kinderzimmern (zumindest bis vor ein, zwei Generationen) sowie dank John Huston und Gregory Peck auch auf den Fernsehschirmen erobert.
Moby-Dick, der weiße Wal, und der einbeinige Kapitän Ahab: Wer jagt hier wen auf allen Meeren von der Nordbis in die Südsee? Der Mensch das Tier oder das Tier den Menschen? Letztlich sind die Rollen klar vergeben. Wenn das Tier, also die Natur, auch noch so gewalttätig, zerstörerisch, ja mörderisch ist bzw. den Anschein erweckt, es zu sein – was jedoch nichts anderes ist als menschliche Projektion und Interpretation und genau genommen eine Art Wunschdenken bzw. eine fatale und in Ahabs Fall tödliche Auflehnung gegen das gar nicht so blinde Schicksal. Die wahre Bestie ist der Mensch, ist der nicht von ungefähr verstümmelte Kapitän Ahab in seinem Fanatismus, seiner Anmaßung und Verblendung. Ein Walfängerschiff des frühen 19. Jahrhunderts war eine eigene Welt, ein Dorf gewissermaßen, wenn auch ohne Frauen, was nichts einfacher macht und manches auf die Spitze treibt. Das Personal auf dem Schiff ist ein dörfliches. Da gab es neben drei Steuermännern=Vorstehern, den Harpunieren=Jägern und den Matrosen=Knechten auch den Schiffszimmermann, den Schiffsschmied, den Koch natürlich, also gewissermaßen biblische, archaische, auch durchaus archetypische Gestalten.
Die Fahrt dauerte zwei, drei oder auch vier Jahre. Das Ziel war klar, der Ausgang ungewiss. Nicht nur in Anbetracht der elementaren Gefahren und der extrem riskanten Walfängerei selbst bestand somit durchaus Grund und Anlass, bis zu einem gewissen Grad mit der Welt und dem Leben als Landbewohner abzuschließen. Wer auf einem solchen Schiff angeheuert hat, so wie der junge Ismael auf der „Pequod“ von Kapitän Ahab, musste wissen, was er tut. Das heißt aber nichts anderes, als dass er wissen musste, dass er nicht wusste, nicht wissen konnte, was er tut. Oder einfacher: Es ging nicht ums Wissen, sondern ums Tun. Dieses Tun realisiert die Besatzung der „Pequod“, indem jeder der etwa 30 Männer seine jeweiligen Tugenden einsetzt, seine persönliche Geschichte und individuellen Erfahrungen ebenso einbringt, wie er sie im Dienst für das Ganze – und das heißt: für den Kapitän und dessen Mission – hinter sich lässt. Körperliche Fähigkeiten und handwerkliches Geschick stehen neben Mut, Solidarität und Entschlossenheit, gipfelnd in Gehorsam und Todesbereitschaft. Was auf der „Pequod“ zudem auffällt, ist das Fehlen von Religion. Außer Queequeg, dem polynesischen Harpunier, scheint niemand zu beten, und auch er zu einem seltsamen Götzen. Ahab legt sich überhaupt mit allem an, was irgendwie göttlich ist. Sogar die Sonne würde er niederschlagen, wenn es notwendig ist, sagt er, und von welchem Gott auch immer erwartet er so wenig, wie er ihm schuldig zu sein glaubt. Das ist jetzt vielleicht auf den ersten Blick eine extreme Position, um ins Bregenzerwälderische einzuschwenken. Aber, wenn man genau hinschaut und sich einen tieferen Blick zugesteht, durchaus legitim und erhellend.
Der Bregenzerwald ist kein Schiff, trotz der beiden Hotels in Hittisau bzw. Au, die sich so nennen. Es ist auch kein irrer Kapitän am Steuer, der notfalls oder sogar ganz ohne Not die gesamte Region mit sich in den Abgrund reißt. Es geht mir nicht darum, Parallelen zu finden, Gemeinsamkeiten oder irgendwelche Ergänzungen. Die Frage ist vielmehr, wie sich so ein Buch wie Moby-Dick im Bregenzerwald liest. Da stelle ich zum wiederholten Mal fest, wie die mich umgebende ländliche Stille die Aufmerksamkeit steigert, die Konzentration fördert und das Abtauchen in Melvilles Erzählung begünstigt. Dann fällt mir auf, dass es sehr wohl Parallelen zwischen der damaligen Walfängerei und der, wenn auch in dieser Gestalt untergegangenen (!), Welt des Bregenzerwaldes gibt. Etwa die gefährliche Holz- und Heuzieherei im Winter, wenn von den Bauern und Holzern mit schweren Lasten beladene Horner vom Berg ins Tal gefahren wurden. Auch der Aufenthalt auf den Alpen wird vor 100 Jahren, was die Abgeschiedenheit und das Auf-sichselbst- gestellt-Sein betrifft, nicht allzu weit von der Seefahrt der Waljäger entfernt gewesen sein und also auch ähnliche Charaktere erfordert und erzeugt haben. Wie der Walfang ist das Leben im Bregenzerwald vom Archaischen ins Technische übergegangen. Dass aber das Heutige aus einer Geschichte kommt und immer noch Teil einer Tradition ist, die in wesentlich längeren Zyklen agiert, als wir das heute überschauen, gibt mir zu denken. Es bestimmt und bewegt meinen Zugang zum Gegenwärtigen in seiner nur scheinbaren Selbstgenügsamkeit und nur oberflächlich selbsterklärenden Darstellung. Gerade so isoliert dastehende Ereignisse wie Ahabs Feldzug gegen den weißen Wal oder weitgehend an Maschinen übertragene bäuerliche Arbeitsweisen liefern Hinweise auf ein Ganzes, dem alles Tun ebenso gehorcht, wie dagegen anzukämpfen es nicht unterlassen kann. Seeleute und Bergler sind einander näher, als man denkt.
Autor: Peter Natter
Ausgabe: Reisemagazin Bregenzerwald – Winter 2023-24