Heute landen fünftausend Liter im Bottich. Mehr als zuletzt. Die Milchmenge schwankt. Vergangene Woche war das Dorf voller Gäste, die verbrauchten die Milch direkt, ein Lieferant produzierte außerdem Joghurt, ein anderer Speiseeis. Im Bottich wird die Milch erwärmt. Biologisches Pulverlab aus Kälbermägen kommt hinzu. Die Säurebakterien verdicken die Milch schließlich zu einer Gallerte. Mit der Käseharfe wird sie so lange geschnitten, bis die Molke abscheidet und maiskorngroßer Käsebruch übrig bleibt. Die Molke wird zentrifugiert und in Tanks gefüllt. Bauern holen sie als Futter für Schweine ab. Der Rest landet in Bezau im Faulturm einer Biogasanlage. Der Käsebruch wird in Formen gefüllt und bis morgen früh gepresst.
All das können die Kunden durch Glaswände beobachten. Als das Käsehaus 2009 umgebaut wurde, hat sich die Genossenschaft dazu entschieden, die Türen zu öffnen.
Brief Felders:
„Gehst Du dann, wie auch andere, die in der Sennhütte nichts zu tun hätten, da sie keine Milchbauern sind, dem großen Haufen nach, so kannst Du vom Glück reden, wenn Du noch Platz bekommst. Überall sitzen Bauern auf den umgekehrten Butten und Kübeln, der Senn auf der Stiege und der Berlinger auf einem ins Feuerloch gespannten Brett. Der Jauko Michel, Dein guter Freund, sitzt in heldenhaft durchlöcherten Hosen auf der Bank und redet klar, deutlich und mit einer Wärme, die alle hebt und trägt, das hörst Du sogar den Fragen und Einwendungen an, die ihn alle Augenblicke unterbrechen. So ist’s fast immer gewesen, seit ich den letzten Brief schrieb. Damals mochte ich Dir noch nichts berichten, weil ich noch nichts von Erfolgen zu berichten hatte. Doch jetzt redet und streitet man in drei Gemeinden für und wider mich. Jetzt ist’s ganz anders.“
Nach zwei Tagen im Salzbad kommt der junge Käse in die Schatzkammer: viertausend Laibe in zwei Hightech-Lagerräumen. Zwischendrin schnurrt „Franz Michel“, ein Käseroboter, der Laib für Laib aus dem Regal zieht, mit Salzlauge bespritzt und mit Rundbürsten pflegt. Günther Muxel ist froh, dass er diese kräfteraubende Arbeit nicht mehr selbst erledigen muss. Und trotzdem – wenn er könnte, würde er am liebsten die Sommer wieder als Senn auf der Alpe Vordere Üntschen verbringen, wo er, aufgewachsen im Gasthof Adler, das erste Mal mit neun Jahren war, und alle darauffolgenden Sommer, bis er 1999 als Senn in der Sennerei Schoppernau begonnen hat. Sehnsüchtig erinnert er sich an atemberaubende Sonnenauf- und -untergänge. Nirgends auf der Welt sind sie so schön wie dort oben. An bestimmten Tagen schien die Sonne in ein winziges Fenster, schickte ihre Strahlen durch die lange Sennküche und malte an die gegenüberliegende weiße Wand einen orangeroten Punkt. Abends saß Günther im Schopf und verlor sich in einem übermächtigen Sternenhimmel.
Brief Felders an Rudolf Hildebrand vom 19. Mai 1868:
„Schöne herrliche Tage sind über unser Ländchen gekommen. Alles jubelt und mir ist so wol im Freien, daß ich kaum noch an Dinte und Feder denke, und an das schneeweiße Papier. Gestern war ich in Hopfreben und führte Mist auf die schneefreien Weideplätze.“
Auch Günther Muxel liebt und schätzt die Natur. Sobald seine Arbeit im Sennhaus mittags beendet ist, findet man ihn auf der Skipiste, wo er den Nachwuchs trainiert. Eine Verkäuferin unterbricht seine Gedanken: Ein Kunde verlange Ziegenkäse, aber der sei schon wieder ausgegangen.
Ziegenzüchten gehört zu den weiteren Leidenschaften von Muxel. Die Nachfrage nach Ziegenkäse wäre groß, aber mehr schaffe er beim besten Willen nicht. Im Winter ist Käsemachen ohnehin schwieriger als im Sommer. Jeder Bauer füttert die Tiere ein wenig anders. Im Sommer fressen alle 250 Kühe in Schoppernau das gleiche Gras. Ab April, wenn das Milchkontingent europaweit fällt, stehen sie in direkter Konkurrenz mit Betrieben in Holland oder Frankreich. Kürzlich besichtigte Muxel einen Betrieb im Allgäu mit mehr als 1.600 Kühen. Die einzige Chance, im Bergbauerngebiet mitzuhalten, sieht Muxel in der besonderen Qualität des Bergkäses.
Brief Felders:
„Mit dem Milchhandel ist’s ein wahres Elend. Im Herbst hab ich einen Brief oder doch ein Stück Brief von einem Käshändler in die Hände gebracht und bin dadurch auf eigene Gedanken gekommen, die ich samt Anhang gern in einem nur für den Wald berechneten Schriftchen veröffentlichen möchte. Glaubst Du nicht auch, unsere Kühe werden künftig ins Allgäu wandern? (Italien, Norddeutschland.) Ich rede mich oft heiser für unsern Plan, auch die Oberhauser reden sehr verständig mit, und ich glaube nicht ohne Erfolg.“ Nur Milch, Bakterien und Salz, sollte man meinen. Hat der Käse damals so geschmeckt wie heute? Keiner kann das beantworten, aber aus Berichten von Vorfahren, den Ines und Ähles, wie die Großeltern hier genannt werden, weiß Günther Muxel, dass Käse am Anfang des letzten Jahrhunderts teilweise nur schwer genießbar war. Der Käse ist viel reiner geworden und die Ines und Ähles staunen immer wieder über die viel bessere Qualität. Das Käsemachen im Bregenzerwald ist Tradition. Dass diese Kunst immer noch Bestand hat, ist auch Franz Michael Felder zu verdanken, der für eine Genossenschaft gekämpft hat, um die Abhängigkeit von den Käsegrafen zu überwinden.
Brief Felders:
„Für heute ist’s genug und es grüßt Dich herzlich Dein kommunistischer, verketzerter, abgechristenlehrter, niedergepredigter, käshandelssüchtiger, armer Freund Fr. M. Felder.“
Autorin: Irmgard Kramer
Ausgabe: Reisemagazin Winter 2015-16