Es dämmert, als wir fertig sind. Wir gehen zur Alphütte, legen unsere Hirtenstöcke zur Seite und nehmen erstmals vor dem Schopf Platz. Vor uns das Gehege mit gut 230 Stück Rindern. Wir sind am Nachmittag vom Tal losgezogen, über den steilen Serpentinenpfad auf den Gerachsattel marschiert, um schließlich auf ein weites, kesselförmiges Hochplateau zu gelangen, wo dann plötzlich in einer Senke die Alphütte des Ifersgunten auftaucht.
Die Alpe wurde schon vor 700 Jahren bestoßen und wahrscheinlich waren damals schon die Bauern des Tales im Frühherbst, wenn die Weiden abgegrast sind und sich in einen grün-bräunlich schimmernden Teppich verwandeln, hinaufgestiegen, um am nächsten Morgen gemeinsam ihr Vieh ins Tal zu bringen. Wir, die sogenannten Viehtreiber, blicken starr in die Ferne, vor uns das wuchtige Gesteinsmassiv des Hohen Ifen. Die Almweiden ruhen bereits im Dämmerlicht, nur noch die Bergspitzen erstrahlen in der Abendsonne, und im Hintergrund die ersten feinen Konturen des fast vollbauchigen Mondes – Bergidylle, die im Moment nur uns gehört. Wir haben zuvor im Alpgebiet die Rinder gesammelt, sie ins Gehege getrieben. Der Hirte Günther Troy geht dort nun auf und ab, den Hirtenstock in der Hand; im Volksmund sagt man, er zählt die Rinder. Aber in dem Gewühl kann man unmöglich zählen – die Rinder sind unruhig, rennen wild umher, brüllen und raufen. Der Hirte muss sich also beweisen, zeigen, dass er das kann, was einen guten Hirten auszeichnet: jedes einzelne Stück Vieh vom anderen unterscheiden und auf diese Weise ersehen, ob die Herde vollzählig ist. Noch einmal streifen seine Blicke über das Fell, die Hörner, die Augen, die Kuhglocken, die Beine, die Schwänze, die Euter und die Statur der Rinder. Das verlangt Konzentration. Gut anderthalb Stunden macht er seine Runden im Gehege. Man bekommt das ungute Gefühl, das eine oder andere Rind könnte fehlen. Dann klettert er über den Zaun, schreitet zu uns, sagt kein Wort, verzieht keine Miene. „Hascht alle?“, fragt einer aus unserer Runde. Jetzt lächelt er: Ja, alle sind da. Wir atmen auf, somit ist das Tagwerk erbracht.